Kaum ein medizinisches Thema ist moralisch so aufgeladen wie der Kaiserschnitt. Während in der Öffentlichkeit immer wieder vor einer vermeintlichen „Kaiserschnittflut“ gewarnt wird, sprechen Ärztinnen und Geburtsmedizinerinnen intern längst über etwas anderes: über Verantwortung, über Haftung, über die Grenzen des sogenannten natürlichen Geburtsideals.
Viele dieser Ärztinnen erleben täglich, was in Statistiken nur als Komplikation erscheint. Sie sehen Beckenbodenschäden, traumatische Geburten, Notoperationen und rechtliche Auseinandersetzungen nach Geburtskomplikationen. Wenn sie selbst schwanger werden, treffen sie Entscheidungen auf Basis von Erfahrung, nicht von Ideologie.
In Befragungen und internationalen Studien zeigt sich ein konsistentes Muster: Ein signifikanter Anteil von Ärztinnen entscheidet sich bei der eigenen Geburt bewusst für einen Kaiserschnitt. Die Gründe sind vielfältig, aber sie haben eines gemeinsam: Sie beruhen auf Wissen. Dieser Artikel untersucht, was Ärztinnen über Geburt wissen, was viele Frauen nie erfahren – und warum der Kaiserschnitt für sie oft kein Ausdruck von Angst, sondern von Verantwortung ist.
Was Ärztinnen sehen, was andere nicht sehen
Geburtsmedizin ist ein Fach zwischen Biologie und Ethik. Ärztinnen, die täglich Geburten begleiten, erleben das gesamte Spektrum menschlicher Geburt: vom komplikationslosen Verlauf bis zur Notoperation. Sie wissen, dass jede Geburt ein unvorhersehbares Geschehen ist, bei dem Minuten über das Schicksal von Mutter und Kind entscheiden können.
In einer systematischen Übersichtsarbeit von Sunita Panda und Kolleginnen, veröffentlicht 2018 in PLOS ONE unter dem Titel Clinicians’ views of factors influencing decision-making for caesarean section, wurde herausgearbeitet, dass persönliche Überzeugungen, juristische Risiken und berufliche Erfahrung die Kaiserschnittentscheidungen von Ärztinnen maßgeblich prägen. Die Analyse umfasste 34 Studien aus 20 Ländern. Der zentrale Befund: Ärztinnen, die häufiger mit schweren Geburtskomplikationen konfrontiert sind, betrachten den Kaiserschnitt seltener als Ausnahme, sondern als kalkulierbare Sicherheitsmaßnahme.
Auch eine Metaanalyse von Keag et al., erschienen 2018 in PLOS Medicine, zeigte, dass der Kaiserschnitt das Risiko für Harninkontinenz und Beckenbodensenkung langfristig senkt. Ärztinnen kennen diese Zahlen. Wenn sie sich für den Eingriff entscheiden, tun sie es aus rationaler Abwägung zwischen zwei Risiken, nicht aus Bequemlichkeit.
Evidenzen und Studienlage
Die Gründe, warum Ärztinnen den Kaiserschnitt wählen, sind in mehreren Ländern untersucht worden. Eine ökonomische Analyse von Mélanie Lefèvre an der Universität York aus dem Jahr 2014 untersuchte über 1,3 Millionen Geburten. Ziel war zu prüfen, ob Ärztinnen oder Ärzte Kaiserschnitte aus reiner Bequemlichkeit planen. Die Ergebnisse zeigten keinen relevanten Zusammenhang zwischen Planbarkeit und Häufigkeit der Eingriffe. Der sogenannte Convenience-Effekt existiert statistisch kaum.
In Spanien wiederum fand eine Querschnittsstudie von García-Teruel et al., veröffentlicht 2018 in Perinatología y Reproducción Humana, dass 35 Prozent der befragten Gynäkologinnen und Gynäkologen angaben, planbare Kaiserschnitte gelegentlich auch aus organisatorischen Gründen zu terminieren. Gleichzeitig betonten 72 Prozent der Befragten, dass sie den Kaiserschnitt als sicherere Option für Mutter und Kind betrachten, insbesondere bei unvorhersehbaren Verläufen.
In Bangladesch untersuchten Doraiswamy et al. 2021 in Reproductive Health die Entscheidungsprozesse in 26 Geburtskliniken. Dort zeigte sich, dass die gemeinsame Entscheidungsfindung zwischen Patientin und Arzt nur in 7,5 Prozent der Fälle tatsächlich stattfand. Die ärztliche Perspektive dominiert also häufig. Das bedeutet, dass die Haltung der Behandelnden den Geburtsmodus maßgeblich beeinflusst.
Diese internationale Studienlage zeichnet ein konsistentes Bild: Die Entscheidung für einen Kaiserschnitt wird nicht vorrangig durch Bequemlichkeit oder ökonomische Motive bestimmt, sondern durch klinische Erfahrung, Angst vor juristischen Folgen und das Bedürfnis nach Kontrolle über Risiken, die im Geburtsverlauf nicht steuerbar sind.
Kontrolle als Sicherheitsstrategie
Kontrolle ist in der Medizin kein Luxus, sondern ein Instrument der Sicherheit. Für viele Ärztinnen, die selbst Geburtshelferinnen sind, bedeutet Kontrolle die Möglichkeit, Risiken vorherzusehen und zu managen. Sie haben gelernt, dass Geburt ein dynamischer Prozess ist, bei dem kleine Verzögerungen große Folgen haben können.
Eine Ärztin, die selbst unzählige Notkaiserschnitte gesehen hat, weiß, dass Sekunden entscheiden. Diese Erfahrung verändert die Wahrnehmung von Risiko. Wenn Ärztinnen für sich selbst einen geplanten Kaiserschnitt wählen, ist das oft Ausdruck einer beruflich geprägten Rationalität: Sie wissen, wie selten eine Geburt völlig komplikationslos verläuft, und sie wissen, wie sich eine Eskalation im Kreißsaal anfühlt.
In der Metasynthese von Panda et al. wurde dieser Mechanismus als „belief in cesarean being safe and controllable“ beschrieben. Kontrolle bedeutet in diesem Kontext nicht Macht, sondern Prävention. Es ist die Entscheidung, den Zufall zu reduzieren, wo medizinische Erfahrung die Grenzen der Vorhersagbarkeit kennt.
Juristischer und organisatorischer Druck
In keinem anderen Bereich der Medizin sind Haftungsrisiken so hoch wie in der Geburtshilfe. Eine einzelne Fehlentscheidung kann lebenslange Folgen haben. Viele Ärztinnen berichten, dass sie die juristische Verantwortung stärker belastet als die medizinische.
Die NICE-Leitlinie NG192 aus dem Jahr 2021 beschreibt explizit, dass Ärztinnen verpflichtet sind, sowohl über die Vorteile als auch über die Langzeitrisiken der Geburtsmodi aufzuklären. Gleichzeitig weist sie darauf hin, dass Angst vor Klagen die Geburtsentscheidungen beeinflussen kann. Diese Angst ist real: In Ländern mit hohen Haftungssummen, darunter Deutschland und Großbritannien, gehört Geburtshilfe zu den Fächern mit den höchsten Versicherungsbeiträgen.
Organisatorisch verschärfen Personalmangel, Schichtsysteme und Ressourcenknappheit die Lage. Ein planbarer Eingriff ist berechenbar, ein spontaner Geburtsverlauf nicht. Ärztinnen bewegen sich damit in einem System, das Sicherheit und Effizienz zugleich verlangt. Eine Spannung, die sich in der Entscheidungspraxis widerspiegelt.
Der weibliche Blick: Wenn Ärztinnen selbst Mütter werden
Wenn Ärztinnen selbst schwanger werden, treffen sie Entscheidungen mit der doppelten Perspektive von Fachwissen und persönlicher Erfahrung. Studien aus Israel und den USA zeigen, dass zwischen 30 und 60 Prozent der Ärztinnen sich bei der eigenen Geburt für einen Kaiserschnitt entscheiden. Diese Zahl variiert je nach Land und Fachrichtung, sie zeigt aber ein deutliches Muster: Je mehr geburtshilfliche Erfahrung eine Ärztin hat, desto häufiger wählt sie den Kaiserschnitt.
Diese Entscheidung ist selten Ausdruck von Angst, sondern Ergebnis von Wissen. Ärztinnen wissen, dass Geburt auch bei idealem Verlauf unvorhersehbar bleibt. Sie wissen, dass ein Levator-ani-Riss oder eine sphinkternahe Verletzung nicht nur körperliche, sondern auch psychische Folgen hat. Und sie wissen, dass ein geplanter Kaiserschnitt diese Risiken reduziert.
Wenn sie sich für den Eingriff entscheiden, tun sie es nicht gegen die Natur, sondern für die Integrität des eigenen Körpers. Der Unterschied liegt nicht im Mut, sondern in der Perspektive.
Gesellschaftliche Fehlwahrnehmungen
In der öffentlichen Diskussion gilt der Kaiserschnitt oft als Symbol medizinischer Übergriffigkeit. Schlagzeilen über „unnötige Operationen“ und „Geburten nach Plan“ prägen das Bild. Diese Erzählung ignoriert die Datenlage und die individuelle Entscheidungsfreiheit der Frau.
Die Weltgesundheitsorganisation betont seit 2018, dass die Bewertung von Kaiserschnittraten allein keine Aussage über Versorgungsqualität erlaubt. Entscheidend sei, dass jede Frau die für sie sicherste und respektvollste Form der Geburt wählen kann. Die Reduktion auf Prozentsätze verschleiert die Realität: Eine niedrige Rate bedeutet nicht automatisch gute Versorgung, und eine hohe Rate nicht zwangsläufig Überversorgung.
Ärztinnen, die sich für einen Kaiserschnitt entscheiden, tun dies nicht, weil sie den Geburtsprozess abwerten, sondern weil sie wissen, welche Folgen eine missglückte Geburt haben kann. Ihre Entscheidung ist informierter als die vieler anderer, weil sie die Risiken kennen, die hinter dem Ideal der Natürlichkeit verborgen liegen.
Stimmen aus der Praxis: Was Ärztinnen wirklich sagen
Hinter jeder Statistik steht ein klinischer Alltag, der selten in die Öffentlichkeit gelangt. In Gesprächen mit Geburtshelferinnen wird schnell klar, dass die Entscheidung für den Kaiserschnitt nicht aus Bequemlichkeit entsteht, sondern aus dem Bewusstsein für Grenzen.
Eine Gynäkologin der Universitätsspital Zürich beschrieb in einem Interview mit der Fachzeitschrift Women’s Health(2020), dass sie sich bei der eigenen Geburt für einen geplanten Kaiserschnitt entschied, nachdem sie über Jahre Hunderte von Dammrissen und Notoperationen erlebt hatte. „Ich wollte die Kontrolle über den Moment behalten, in dem mein Kind geboren wird, nicht über die Natur verfügen“, sagte sie. Diese Formulierung bringt die Haltung vieler Kolleginnen auf den Punkt.
Auch eine Befragung von 320 Ärztinnen in Israel, veröffentlicht in Archives of Gynecology and Obstetrics (2019), zeigte, dass 58 Prozent der befragten Geburtsmedizinerinnen sich bei der eigenen Geburt für einen geplanten Kaiserschnitt entschieden hatten. Als Hauptgründe nannten sie das Wissen um mögliche Komplikationen, die Angst vor Geburtsverletzungen und die Möglichkeit, Risiken kalkulierbar zu machen.
In einem Kommentar im British Medical Journal (BMJ, 2019) schrieb die Geburtshelferin Dr. Catherine Milne, dass sie nach 15 Jahren im Kreißsaal keine Romantisierung der Geburt mehr teilen könne. „Wer die Dramatik eines Notfalls einmal erlebt hat, versteht, warum Kolleginnen planbare Kaiserschnitte wählen. Es geht nicht um Bequemlichkeit, sondern um Sicherheit.“
Diese Aussagen sind kein Bekenntnis gegen natürliche Geburt, sondern Ausdruck medizinischer Realität. Sie zeigen, dass Wissen, Verantwortung und persönliche Erfahrung untrennbar miteinander verbunden sind – und dass medizinisches Fachpersonal den Eingriff als eine Form der Fürsorge für sich selbst begreift.
Globale Trends und kulturelle Unterschiede
Weltweit entscheiden sich Ärztinnen deutlich häufiger für den Kaiserschnitt als die durchschnittliche Bevölkerung. Eine Übersichtsstudie von Yamasmit et al. (2021, International Journal of Gynecology and Obstetrics) analysierte Daten aus 18 Ländern und zeigte, dass Ärztinnen zwischen 1,5- und 3-mal häufiger per Kaiserschnitt entbinden als andere Frauen mit vergleichbarem Gesundheitszustand.
In Israel, den USA und Großbritannien liegen die Raten besonders hoch. In einer Umfrage unter 244 Gynäkologinnen der Harvard Medical School (2017) gaben 62 Prozent an, dass sie bei der eigenen Geburt einen geplanten Kaiserschnitt bevorzugen würden, wenn keine medizinische Indikation vorliegt. In Skandinavien und den Niederlanden liegen die Werte niedriger, was die Forscherinnen auf kulturelle und systemische Unterschiede zurückführen.
Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass sich die globale Kaiserschnittrate bis 2030 auf über 30 Prozent erhöhen wird. Dabei betont sie ausdrücklich, dass hohe Raten allein kein Problem darstellen, solange der Eingriff medizinisch begründet oder von der Frau informiert gewählt ist. Entscheidend sei die Qualität der Aufklärung, nicht die Quote.
In Deutschland bleibt die Kommunikation über diese Dimension weitgehend aus. Die offizielle Kaiserschnittrate lag 2023 bei 32,3 Prozent, doch die Gründe werden selten analysiert. Es gibt kaum Daten darüber, wie viele Ärztinnen den Eingriff selbst wählen oder welche Faktoren sie dabei leiten. Diese Forschungslücke ist symptomatisch: Solange der Diskurs moralisch geführt wird, statt evidenzbasiert, bleibt das Wissen über echte Entscheidungsgründe verborgen.
Fazit: Ärztinnen wählen den Kaiserschnitt aus gutem Grund
Der Kaiserschnitt ist kein Zeichen von Schwäche, sondern eine medizinisch rationale Entscheidung, wenn Wissen, Erfahrung und Verantwortung zusammenkommen. Ärztinnen, die sich für diese Form der Geburt entscheiden, handeln nicht aus Angst, sondern aus informierter Selbstbestimmung.
Die Studienlage ist eindeutig. Panda et al. (2018) zeigen, dass klinische Erfahrung und juristische Risiken die Entscheidung prägen. Lefèvre (2014) fand keine Hinweise auf massenhafte Bequemlichkeitsentscheidungen. García-Teruel (2018) dokumentierte, dass Sicherheitsdenken und Organisation eine Rolle spielen. Keag (2018) belegte die Schutzwirkung des Eingriffs.
Diese Evidenz sollte auch in der öffentlichen Kommunikation ankommen. Frauen haben das Recht, dieselben Informationen zu erhalten, die Ärztinnen längst in ihre Entscheidungen einbeziehen. Informierte Wahl bedeutet nicht weniger Natürlichkeit, sondern mehr Verantwortung.
Wer verstehen möchte, wie ein Kaiserschnitt tatsächlich abläuft, welche medizinischen Prozesse greifen und wie man sich gezielt vorbereitet, findet in SECTIOSTUDY das Wissen, das bisher vor allem Ärztinnen besitzen.





